Wie ein kleiner Webfehler das Gleichgewicht im Darm durcheinanderbringt
Mit ernstem Gesicht tritt Dr. Kotlarz aus dem Untersuchungsraum. An seiner Hand ist die Äyä (13). Ihre Mutter steht auf, schließt ihre Kleine in die Arme – und schaut halb ängstlich, halb hoffend auf den Arzt. „Ihre Tochter ist eine Heldin“, sagt Dr. Daniel, wie Äyä ihn nennt. Er weiß um die jahrelange Krankenhaus-Odyssee seiner Patientin, er kennt ihre schwere Krankenakte mit all den Operationen, die Schwierigkeiten der großen Familie. Und: Er kennt als erster die Krankheitsursache, an der seine Patientin leidet.
Der Arzt hat schon während seines Medizinstudiums erkannt, dass das Heilen von Krankheiten auch in unserer Zeit keine Selbstverständlichkeit ist. Geheilt werden können viele Krankheiten, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte erkannt und erforscht wurden. Aber was ist mit den seltenen Krankheiten, mit all den Leiden, die nicht verstanden werden, weil sie so selten sind?
Diese Frage lässt Dr. Kotlarz keine Ruhe. Er will nicht hinnehmen, dass diese Patienten leiden müssen und keine Hoffnung auf Heilung haben. Er will mehr über die „seltenen Erkrankungen“ erfahren, da diese Patienten häufig nicht diagnostiziert und damit nicht optimal behandelt werden können. Darüber hinaus interessiert sich die Pharmaindustrie nicht für diese Einzelschicksale. Diese Patienten sind selbst in der Hochschulmedizin „Waisenkinder“ – die Waisen der Medizin. Um sich ihrer anzunehmen, wird Dr. Kotlarz nicht nur Arzt, sondern Arzt und Wissenschaftler. Er will auch die Krankheiten erkennen, die bisher keiner kennt. Er will sie verstehen, um die Kinder eines Tages heilen zu können.
Als er Äyä zum ersten Mal trifft, ist sie neun – und war bereits bei über 20 verschiedenen Ärzten. Unmengen von Medikamenten haben sie ihr verschrieben, seit die unerträglichen Schmerzen sich in den ersten Lebenswochen zeigten. Nach ein paar Monaten beginnen die Operationen, bei denen schließlich Teile ihres Darms entfernt werden. Doch die Schmerzen bleiben. Abszesse, Nahrungsunverträglichkeiten und Übelkeit kommen hinzu. Äyä hat eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung, so sagen die Ärzte. Doch sie hat auch Lungenentzündungen, Fieber, immer und immer wieder schwere Infektionen. Die Ärzte sind ratlos. Auch das Team am Dr. von Haunerschen Kinderspital mit „Dr. Daniel“ kann sich zunächst diese seltene Erkrankung nicht erklären – aber sie geben nicht auf. Sie haben den Verdacht, ein fehlerhaftes Gen könnte Äyäs Leiden verursachen. In der Klinik wird sie von einem Expertenteam behandelt und im Labor geht „Dr. Daniel“ dem Verdacht nach. Weltweit fahndet er nach vergleichbaren Fällen. Er bittet Kollegen um Mithilfe und so wird aus dem Fragezeichen im Krankenhaus ein Forschungsprojekt für Äyä. Und für die mehr als 500 anderen Patienten mit schweren chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen weltweit, die er und sein Team aufspüren.
2013 gelingt der Durchbruch: „Dr. Daniel“ entdeckt unter den 20.000 Genen Äyäs das eine, von dem ihr Leid ausgeht. Er kann Äyä und ihrer Mutter sagen: „Wir wissen jetzt, was für eine Krankheitsursache das ist!“ Nun kann Äyä endlich zielgerichteter behandelt werden und kann trotz allem zur Schule gehen!
Ist die Krankheit ganz zu heilen? Möglicherweise können defekte Gene in der Zukunft repariert werden. Um das bei Äyä zu tun, muss ihre Erkrankung aber noch besser untersucht und die Krankheitsmechanismen besser verstanden werden. Und das braucht Zeit bei einer so komplizierten Krankheit. Von der Entdeckung einer Krankheit bis zur Erfindung des passenden Medikaments können Jahre bis Jahrzehnte vergehen. Es ist das große Ziel von Dr. Kotlarz, diese Therapie zu finden, für Äyä und viele andere Kinder mit seltenen Immunerkrankungen. Auch die, die in Zukunft mit einem solchen Gendefekt geboren werden.
Daniel Kotlartz wurde viele Jahre als Stipendiat von der Care-for-Rare Foundation gefördert.